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Solingen: Über die Gnadenlosigkeit und das Leben danach

Als die Reise nach Solingen geplant wurde, freute ich mich darüber, dass ich endlich die Familie Genç kennen lernen würde dürfen. Gleichzeitig jedoch fühlte ich mich jedes Mal auf ein Neues bedrückt, wenn ich mich an die Geschichte der Familie zurückerinnerte und daran dachte, was passiert gewesen war und welche Trauer die Hinterbliebenen verspüren mussten, wenngleich schon Jahre vergangen waren.

Die Reise nach Solingen war Anfang November, als der Herbst gerade seine Hochsaison erlebte, besonders schön. Wir besichtigten das Schloss Burg an der Wupper. Die Straßen, die dorthin führten, waren bedeckt mit bunten Herbstblättern. Auch wenn ich als Tirolerin zwar an die Schönheit der Natur gewöhnt bin, so bot mir dieser Ort einzigartige Perspektiven für unzählige Fotos. Die Bäume waren anders; die Wälder hatten keine Tannenbäume wie in Tirol; die Häuser hatten eine andere Architektur, als ich gewohnt war. Jedes einzelne Haus sah aus, als ob es gerade frisch gestrichen worden sei. Es gab keine grauen Wände, wie man sie sonst in den Städten in Deutschland üblicherweise zu sehen bekommt. Auch das Panorama auf die Wälder, vom Schloss aus, neben einer circa 250 Jahre alten Kaiserlinde stehend, betrachtet, war sehenswert. Aus dem Grün schimmerten in verschiedenen Orangetönen die Bäume. Doch leider hatte diese Stadt eine dunkle Vergangenheit, mit der sie sich abzufinden versuchte und die sie immer noch zu verarbeiten hatte. Denn in dieser Stadt war der grausamste rassistische Angriff der Nachkriegszeit in der deutschen Geschichte geschehen.

Am 29. Mai 1993 waren fünf Familienmitglieder einem rechtsextremen Mordanschlag zum Opfer gefallen. Ein Zeitpunkt, der noch nicht zu weit in der Vergangenheit liegt. Am 2. November besuchten wir den Tatort an der Unteren Wernerstraße mit Fatih Zingal. Er schilderte uns die Situation von damals, die er mit jungen Jahren vor Ort mitbekommen hatte, und berichtete uns vom Tag des Anschlages und den Tagen danach, als sich viele zu Demonstrationen versammelt und in der Stadt Ausschreitungen verursacht hatten. Es war in der Straße ziemlich leise. Möglicherweise werden auch die Häuser heutzutage nicht mehr von denselben Personen wie damals bewohnt. Ich sah mir die Lücke zwischen den beiden Häusern an der Stelle des Tatortes an, die aus einer tiefen Leere bestand. Es gab nur noch kleine ältere Bestandteile des Hauses und eine alte Wand zum seitlichen Nachbarn hin, die noch von damals zu sein schien.

Hätten denn diese Wände die grausame Tat in Worten umschreiben können, wenn sie reden könnten? Ich glaube nicht, denn ich kann es für mich selbst nicht einmal in Worte fassen. Immer und immer wieder stelle ich mir die Frage, wie eine Gruppe von Jugendlichen solch eine erbarmungslose Tat hatte umsetzen können. Jugendliche in einem Alter, in dem sie Lebensfreude und Neugierde für das Leben haben sollten, hatten einen Großbrand verrichtet und fünf Menschen in den Tod gerissen.

Wie kann man so viel Hass und Antrieb zum Töten haben und noch dazu in angetrunkenem Zustand solch eine bösartige Tat umsetzen?
Wie war das nur möglich? Ich glaube, ich muss keine Antwort auf diese Fragen finden, denn dann würde ich weder mich selbst verstehen, noch mit der Menschheit empathisch sein können.

Noch dazu erzählte uns Herr Zingal, dass die Täter zur höchsten Jugendstrafe von zehn Jahren und einer von ihnen aufgrund seines Alters von 23 Jahren zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden waren. Heute sind sie mit einer ganz anderen Identität auf freiem Fuß und haben ein neues Leben angefangen. Wie soll nun ein Bürger Vertrauen zum Rechtsstaat aufbauen und wie soll er ohne Bedenken seinen Alltag leben können? Frau Mevlüde Genç zeigte mir mit ihrer Einstellung, die sie trotz allem hatte, dass ich diese Fragen nicht beantworten musste. Das Haus, in dem die Familie jetzt wohnt, war mit einem automatischen Gitterstabzaun und einer Überwachungskamera ausgestattet. Der Bildschirm der Überwachungskamera war über dem Fernseher der Familie montiert, welcher immer eingeschaltet war. Das war also eine der Sicherheitsmaßnahmen, die die Familie getroffen hatte. Weder Rachlust noch Erniedrigung und erst recht nicht Hasspredigt, die heute oftmals als politisches Mittel eingesetzt wird, wurden von der Familie als Maßnahme angewandt. Vielmehr gab uns Frau Genç, seit wir uns mit der Familie in deren Wohnzimmer zusammengesetzt hatten, Ratschläge und Empfehlungen für unser ganzes Leben. Sie erzählte uns von den schwierigen Zeiten, die sie als erste Generation in einem fremden Land durchmachen musste und berichtete uns von ihrem Stolz darüber, dass die jetzige Generation sich integrierte und ein wichtiger Teil der Bevölkerung geworden war. Zudem gab sie uns den Rat, dass wir stets wohlverdientes Geld haben sollten und teilte uns mit, dass sie darauf vertraue, dass wir Großes für unser Leben erreichen würden. Je länger wir zusammensaßen, desto wärmer wurde mir ums Herz. Zugleich hatte ich einen Schmerz in mir, da ich mit der Familie mitfühlte. Seit dem Moment, in dem sie anfing zu reden, hatte ich ein ständiges Kribbeln im Hals. Frau Genç hatte in meinen Augen so viel überwunden, sodass sie eine fast schon übermenschliche Weisheit und Menschlichkeit besaß, die ich sonst bei niemanden bisher gesehen habe.

Für mich war Frau Genç einfach einzigartig, weil sie trotz den Ereignissen ihren inneren Frieden nicht verloren hatte und Versöhnung mit sich und dieser Welt anstrebte, was in meinen Augen sehr schwer zu erreichen ist. Ich wünsche mir für mich auch, dass ich irgendwann einmal diese Geduld, Liebe und Barmherzigkeit in meinem Herzen empfinden und pflegen werde.

Tomurcuk Acikgöz

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