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Ich hasse Erdogan – und ich habe vor Freude geweint, als er die Wahlen gewonnen hat

Am 24.Juni 2018 fand die Präsidentschaftswahl und die Parlamentswahl am selben Tag statt. Der „Sieger“ der Wahl sollte das neue Staatsoberhaupt als auch Regierungschef werden. Receb Tayyip Erdogan (AKP) hat mit 52,6% (Quelle: Wikipedia) die Wahl gewonnen und wird somit das neue Staatsoberhaupt der Türkei nach dem Referendum 2017. Sein größter Konkurrent Muharrem Ince (CHP) hat 30,6% erzielt.

Erdogan war mir schon immer sehr suspekt. Man könnte meinen, es lege an meiner kurdischen Herkunft, aber das ist der einzige Grund. Ich konnte mit seiner „überemotionalisierten“ Art nie etwas anfangen. Erdogan war schon immer gut darin, die Emotionen des Volkes zu bespielen und sie damit dahin zu bekommen -durch Missbrauch dessen- wo er sie haben wollte. Weiter aber, dass er diese Emotionen ausnutze, um Kluften zwischen Menschen im Volke zu schaffen, die bis in die Familienreihen hineinreichten. Auch in meiner Familie gibt es diese Kluften mittlerweile: wenn du Erdogan nicht wählst bist du ein Vaterlandsverräter. Wenn du die HDP nicht wählst, bist du dich dem Rassismus gegenüber der KurdInnen nicht bewusst und somit ignorant.

Doch trotzdem habe ich am 24. Juni 2018 nach der ersten Auszählung der Ergebnisse geweint – vor Freude!

Als MigrantInnenkind der 2. oder 3. Generation erlebt man noch immer allerlei Diskriminierung, Benachteiligung und Rassismus im eigenen Land – damit ist Österreich oder Deutschland, aber auch andere Europäische Länder gemeint. Das sieht man zum Beispiel an der #-Aktion #metwo in der viele Menschen von ihren rassistischen Erfahrungen berichten. Nicht selten kommt es vor, dass Rassisten, sobald ihnen die Argumente ausgehen einem Erdogan-Anhängerschaft vorwerfen. Da im großen Ganzen Einstimmigkeit in der Mehrheitsgesellschaft darüber herrscht, dass Erdogan per se schlecht ist, ist es der Vorwurf ebenso. Und schädlich!

Man hat im besten Fall als Kind 2. oder 3. Generation einen Universitätsabschluss oder ist noch dabei, und/oder eine abgeschlossene Ausbildung, beherrscht die deutsche Sprache hervorragend und hat sich exzellent „integriert“, wie man es nennen würde. Doch noch immer spürt man eine Art des Umgangs von „Bio-ÖsterreicherInnen“, der von oben herab kommt. Und ich bin an dem Punkt, dass ich sage: das kann nicht mehr sein, und das darf nicht mehr sein. Und jede/r, der den Menschen die das tun zeigt, dass das nicht mehr geht, und das „wir“ das nicht mehr mit uns machen lassen, hat meinen „Segen“ – also auch Erdogan (bis jemand „besseres“ bzw. weniger schlimmeres kommt).

Wieso polarisiert Erdogan eigentlich so?
Wieso war man bei der Regierungszeit der CHP in der Türkei nicht so Türkeifanatisch bzw. -feindlich?
Es gibt keinen Tag an dem nicht über die Türkei und/oder Erdogan berichtet wird.
Er wird verteufelt! Er muss weg! Doch wieso?

Mittlerweile meine ich: weil Erdogan das symbolisiert, was kommt – selbstbewusste und wortgewandte „Kanaken“, die sich nicht mehr alles gefallen lassen (werden) und die laut und ohne Furcht sagen „was denkt ihr, wer ihr eigentlich seid, dass ihr denkt ihr könntet so mit mir/uns umgehen!“ -und damit Ungerechtigkeiten benennen und entgegenstehen.

Und darum geht es. Er ist ein Mann, der nicht den Mund hält. Der den weißen Mächtigen die auf einem hohen europäischen Ross sitzen offen vor Millionen Menschen sagen kann, was Sache ist. Der sie runter holt von diesem Ross – und noch weiter, der sie runter stoßt und noch ein paar Mal zeigt, dass das so nicht geht. Und das erträgt der weiße Mensch nicht, er kennt das nämlich nicht. Er kennt keine starke Türkei sowie der weiße Mann keine starken „Kanaken“ kennt und diese auch gar nicht kennenlernen will.

Damit, dass Erdogan sich so benimmt, gewinnt das Volk an Selbstbewusstsein und Selbstwertschätzung, das in all den dramatischen Jahren der Türkei abhandengekommen ist.

„Was wäre denn die Alternative zu Erdogan?“,denke ich mir. Wieder eine CHP Regierung die den Komplex nicht verarbeiten kann nicht als volle Europäer zu gelten und angesehen zu werden, und deswegen jedem/r EuropäerIn jeden Wunsch von den Lippen abliest, sich selbst erniedrigt, in dem er Ungerechte erhöht? Und der „Kanake“ wieder zu dem wird, was er vor Jahren war: ein Mensch zweiter Klasse der zu gehorchen und zu tun hat, was man ihm aufträgt und das Wort nie ergreift und die Stimme nicht erhöht?
Ist das die Alternative?
Stehen wir dort?
Sind wir das?
Wollen wir das wieder (werden)?

Nein!
Und solange es keine/n andere/n PolitikerIn gibt, der/die gerecht, liberal und absolut demokratisch ist und die Stärke und Furchtlosigkeit dem weißen Mann entgegenbringt wie Erdogan es tut, wird Erdogan, trotz all seinen Macken, Fehlern und seiner unerträglichen Art, doch das tragbarste und das „beste“ oder das kleinste Übel sein, was den Menschen in der Türkei, aber auch den türkischen MigrantInnen in Europa nur passieren kann.

Und solange die Menschen in Europa nicht merken, dass das ganze Erdogan und Türkeibashing ihre(!) Jugendlichen in die Arme von Erdogan treibt, wird sich an der Situation so schnell auch nichts ändern. Wenn man nie Anerkennung bekommt von Menschen für die man etwas leistet, wird man früher oder später zu jemandem gehen der sagt: du gehörst zu mir.
Und das ist Erdogan.

Filiz Demir

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